Diese Lieder beißen nicht!
“Diese Musik beißt einen nicht.”
sagte einer meiner Professoren für Musikgeschichte einmal über den
zu seiner Zeit äußerst erfolgreichen Komponisten und Dirigenten
Louis Spohr (1784-1859) und fügte hinzu: “Noch nicht einmal das!”
Das darauffolgende Lachen und Johlen
machte deutlich, dass er ausgesprochen hatte, was wohl viele von uns
in diesem Augenblick gedacht hatten: Wie können sich Leute so eine
gefällige Fahrstuhl-meets-Salonmusik anhören, wo sie doch das Glück
haben, zur selben Zeit zu leben, wie etwa Beethoven, Schumann oder
Mendelssohn-Bartholdy? Über 200 Werke hat der gute Spohr
hinterlassen, bei keinem von ihnen hatte ich jemals das Bedürfnis,
jetzt und auf der Stelle dieses und nichts anderes zu hören, so
wenig uverwechselbar, ausdrucksstark oder meinetwegen auch
schmerzvoll sind sie für mich.
Ich gebe zu, Spohrs
Weltuntergangsoratorium “Die letzten Dinge” weist eine zumindest
erwähnenswerte dynamische Entwicklung nebst einem Hauch von
Theatergewitter auf, angesichts der Apokalypse hätte ich jedoch ein
bisschen mehr Tamtam erwartet. Aber vielleicht bin ich da auch
einfach zu anspruchsvoll und erwarte Dinge, die von diesem Menschen
und zu dieser Zeit nicht zu erwarten waren... jedenfalls komme ich
mir bei dieser Musik immer ein wenig vor wie ein Brief, der bereits
in der Rocktasche des Boten steckt, während dieser noch ein
Schwätzchen nach dem anderen hält: Ich warte immer darauf, dass
irgendwann endlich die Post abgeht.
Nun scheinen wir diese Art von
gefälliger Musik (ein interessantes Wort, nicht wahr? Fast so, als
ob das Gefallen etwas Negatives wäre) im Allgemeinen als angenehmner
zu empfinden und besonders häufig zu hören, was ja im Grunde auch
irgendwie verständlich ist: Sie entspricht unseren Hörgewohnheiten
von frühester Kindheit an, und wir verbinden damit eie Zeit, in der
Mama noch das allheilbringende Zentrum unseres (äußerst
beschränkten) Universums war, in dem das Schlimmste, was uns
zustoßen konnte, in einem Löffelchen voll püriertem Spinat
bestand.
Welche Mutter spielt ihrem Sprößling
zum Einschlafen schon den Walkürenritt vor? Oder György Ligetis
wunderbares Stück für einhundert Metronome *klick* ? Oder tun
sie es vielleicht doch? Und das sind dann die Kinder, die am Ende
Ritalin schlucken müssen oder Jazzdrummer werden? Man weiß es
nicht...
Einen sehr einfachen Selbstversuch kann
man quasi aus dem Stegreif heraus durchführen (ich gebe zu, die Idee
stammt nicht von mir, sondern von Professor Dr Hans-Günter
Ottenberg, der mir hoffentlich verzeihen möge): Summen oder singen
Sie ganz einfach die folgenden Liedanfänge:
- Sah ein Knab ein Röslein stehen
- Das Wandern ist des Müllers Lust
- Es war ein König in Thule
- Am Brunnen vor dem Tore (Der Lindenbaum)
Wer jetzt Youtube unter den
Stichwörtern “Franz Schubert” und dem jeweiligen Liedtitel einen
Besuch abstattet, wird vermutlich feststellen, dass bis auf das Lied
vom Lindenbaum alle anderen Lieder in Vertonungen anderer Komponisten
bekannt geworden und ins Volksliedgut eingegangen sind (Der
Lindenbaumwurde übrigens auch nicht 1:1 übernommen...den
stürmischen Mittelteil mit den Triolen in der Klavierbegleitung
kennt auch kein Kind auf der Straße). Schubert macht es uns da
eindeutig ei wenig zu schwer. Seine Tonartenbezüge, seine
Melodieführung, seine Freude an Modulationen und tonalen
Mehrdeutigkeiten sind zu kompliziert, um beim ersten Hören im
Gedächtnis zu bleiben und mitgesungen werden zu können.
Ich bin übrigens weit davon entfernt,
die einfachen Melodien zu kritisieren und mit Behauptungen im Stil
von “SO kann das ja jeder” abzutun. Selbst die typischen
four-Chord-Songs der Unterhaltungsmusik sind genaugenommen schon
übermäßig kompliziert, da sie einen Akkord mehr enthalten, als
man bräuchte, um alle leitereigenen Töne einer diatonischen Skala,
sprich alles, was sich da so innerhalb der strengen Grenzen der
jeweiligen Tonart bewegt, zu verbraten.
Aus einfachen Mitteln etwas Neuartiges
zu gestalten, einer kleinen Idee mit nur wenigen Hilfsmitteln eine
entwicklung zu einem ganzen Stück zu ermöglichen, ist eine Kunst,
die nicht jeder beherrscht.
Im ersten Satz von Beethovens
Mondscheinsonate steppt dynamisch und motivisch betrachtet ja auch
nicht gerade der Bär und Johann Sebastian Bachs drittes
Brandenburgisches Konzert lebt im Grunde nur von einem einzigen,
winzigen Fortspinnungsmotiv aus gerade einmal 3 Tönen *klick*
König
dieser Technik, ein einziges (OK, im Grunde 2) Thema endlos durch
alle Stimmen und von Tonart zu Tonart zu jagen, ist wohl Maurice
Ravels berühmter Bolero, über den er selbst eimal gesagt haben
soll: “Ich habe nur ein einziges Meisterwerk geschaffen, und das
ist der Bolero. Leider enthält er keine Musik.”
Hätte ich mir auch nicht träumen lassen:
Dass ich den Weihnachtsferien einmal mit Bedauern entgegensehe...
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