Wer hat die Längsten? Paganinis geheimnisvolle Finger
Wenn man den Sportler Oscar
Pistorius erwähnt, muss man aufpassen, nicht in Diskussionen
verwickelt zu werden, die man so gar nicht führen wollte, zu viele
Geschichten und Schlagzeilen ranken sich um den Mann mit der
Beinprothese. Dabei sollte es genau um diese Sache gehen: Die
Prothese, beziehungsweise die Diskussion, die ausgelöst wurde, als
er begann, wirklich erfolgreich zu werden und andere Sportler ohne
Gadgeto-Beine aus dem Rennen zu drängen. Die selben Stimmen, die ihm
zuvor aufgrund der Beinprothese nichts zugetraut hatten, erzählten
plötzlich etwas von unlauterem Wettbewerb und Vorteilen, die sich
aus High-Tech-Gliedmaßen ergeben. Dass man auch mit einem
künstlichen Bein selbst rennen muss, anstatt sich tragen zu lassen,
war kurzfristig aus den Köpfen verschwunden und bescherte seinem
Kollegen Markus Rehm ähnliche Probleme. Kann er nun weiter springen,
weil sein Bein einfach elastischer ist, als meines? Oder bin ich ganz
einfach ein Leben lang eine Niete gewesen, was Leichtathletik
betrifft? Wer weiß es? OK, ich verrate es an dieser Stelle: Ich bin
die Leichtathletikniete. Zwar bin ich ausdauernd und schaffe locker
15 Kilometer auf dem Crosstrainer, brauche dafür allerdings auch
gute 1 ½ Stunden, wenn nicht mehr. Was die Geschwindigkeit angeht,
gehöre ich also mehr in die Kategorie Tranquila Trampeltreu. Da
würde vermutlich auch kein weiteres Bein mehr helfen.
Vorsprung
durch Technik? Werden wir irgendwann alle als Cyborgs durch die
Gegend stiefeln (was ja nicht schlecht sein muss, wie man
anhand von Cochlea-Implantaten oder subrenitalen Sehprotesen erkennen
kann) und über unsere ausfahrbaren Gadgetofinger Dinge erledigen
können, an die wir heute noch nicht einmal denken? Werden Kinder
später in der Schule darüber lachen, was für lahme Veranstaltungen
Typen wie Liszt damals lieferten, damals, in der alten Zeit, als man noch mit den eigenen
Fingern spielen musste. Armes unterentwickeltes präcyborgianisches
Europa. Nee, ehrlich. Arme Säue, die Musiker von früher.
Meine Schulfreundin Hermine
(natürlich hieß sie nicht wirklich so, allerdings war sie ungefähr
genauso drauf, also auch eine dieser Über-Schülerinnen, die grundsätzlich
alles wussten und konnten) hatte geradezu wahnwitzig weit
überstreckbare Fingergelenke. Den Zeigefinger mal eben nach oben
über den Handrücken zum Handgelenk zu biegen war ein Klacks für
sie, was dazu führte, dass sie Klavierstücke mit für unsere
damaligen Verhältnisse bahnbrechender Geschwindigkeit auszuführen
wusste, da sie, ihrer Abspreizakrobatik sei Dank, Intervalle greifen
konnte, die wir mit unseren Kinderhänden damals nur hüpfend
erreichten, was entsprechend mehr Zeit zur Zielanpeilung in Anspruch
nahm. Irgendwann wuchsen unsere Hände dann auf Erwachsenengröße
heran und der Gummifingervorteil war Schnee von gestern, aber mal
ganz im Vertrauen: Wenn es ums Musizieren geht, befindet man sich
ganz eindeutig auf einem der wenigen Gebiete, auf denen es sich klar
lohnt, den Längsten zu haben. Selbst als Frau. Klar, auch hier ist es mindestens ebenso wichtig, wie
man damit umzugehen weiß, aber tatsächlich ist es doch so: Je
länger und elastischer die Gliedmaßen, desto weiter und verworrener
die Greifmöglichkeiten und desto fordernder dürfen dann eben auch
die Stücke sein. Und wenn es auf dem Markt nichts gibt, was
verteufelt genug ist, dann setzen wir uns mit unserem gehörnten
Kumpel von der unterirdischen Heizgesellschaft an einen Tisch und
arbeiten eigene Sachen aus. Mit dem Spinnenfingerteufel im Bunde zu
sein ist ein großer Schritt auf dem Weg zur Weltherrschaft. Oder sagen wir mal: Zumindest zum
Weltruhm.
Derjenige,
der ein Vermögen damit gemacht haben könnte, ist der berühmteste
Geiger seiner Zeit: Niccolo Paganini, der der Ansicht seiner Zeitzeugen
zufolge mit dem Teufel im Bunde war, so dass sich die Frage nach
seiner Beerdigung später zu einem größeren Problem auswachsen
sollte. Nachdem Paganinis Leichnam etwa 40 Jahre nach dem Tod des
großen Geigers tatsächlich in geweihter Erde bestattet werden
durfte (mich interessiert ja, wo sie den Kerl in der Zwischenzeit
gebunkert hatten, in einer Zeit, in der man üblicherweise weder
einen Kühlschrank zuhause hatte, noch den Großvater zwischen den
Salatgurken lagern wollte), hatte die Spukgeschichte um seinen Erfolg
zwar ihren Schrecken verloren, das Rätsel um seine langen Glieder
war jedoch bei weitem nicht gelöst. Kaum war die Sache mit dem
Teufel vom Tisch, begann man daher nach anderen Ursachen für seine
erstaunliche Gelenkigkeit zu suchen, und stieß dabei auf das Marfan
Syndrom, das glücklicherweise vergleichsweise selten vorkommt: Etwa
drei von 100 000 Menschen haben damit zu kämpfen. Mit dem Teufel kämpfen vermutlich weitaus mehr. Auf den ersten
Blick passen viele der typischen Marfan-Syndrome auch auf unseren
Teufelsgeiger: Große, lange Gliedmaßen (besagte Spinnenfingrigkeit)
mit der entsprechend auffälligen Körpergröße, Hyperflexibilität
der Gelenke, Dolichocephalie (Langschädeligkeit) und ein paar
weitere Unannehmlichkeiten, wie eine Neigung zu Aneurismen, also
Gefäß- und damit auch Herzgefäßproblemen, ein übermäßig
schmaler Kiefer mit den aufgrund des Platzmangels entsprechend
schiefen Zähnen, sowie Skoliose und andere Veränderungen an der
Wirbelsäule. Na dann, gehen wir die Liste mal durch:
Lange Finger – check.
Überdehnbare Gelenke – check.
Hoher Wuchs und vergleichsweise
dünne Gliedmaßen - *Häkchensetz*
Zahnprobleme – ja, die können wir
auch abhaken, der arme Mann litt an Liefernekrose, der Knochen löste
sich also auf, was den Zähnen keinerlei Halt mehr bot.
Aber
ist all das ein Beweis für das Marfan-Syndrom, das ihm seitdem immer
wieder nachgesagt wird? Wer sich gerne mit solchen Spielchen
auseinandersetzt, dem sei Kerners
Krankheiten großer Musiker ans
Herz gelegt, darin kann man stundenlang stöbern und rätseln,
welcher Tenor wohl an welcher Krankheit über den Jordan gegangen
ist. Dass allerdings gerade Anomalien, welche die Schädelform
betreffen, zu Nachteilen führen können, zeigen die Zahlreichen
Schädelvermessungen und damit verbundenen Kategorisierungen, wie sie
besonders im 3. Reich gerne verwendet wurden. Wer auch diesbezüglich
gerne etwas für lange Abende hätte, findet in Tod
den Idioten die
passende Lektüre. So gesehen kann unser gewissermaßen Teufelsgeiger
froh sein, früh genug gelebt zu haben, um von derartigen Messungen
verschont geblieben zu sein.
Einen
Langschädel, wie er im alten Ägypten als schick galt, hätte
Paganini vermutlich unter einem Zylinder versteckt, daher scheint
dieses Sympton wohl nicht besonders ausgeprägt gewesen zu sein und
auch andere Messungen ergaben, dass seine Gliedmaßen zwar lang,
jedoch durchaus noch im Bereich des möglichen waren. Weitervererbt
scheint er es auch nicht zu haben – das Marfan-Syndrom gehört also
mit ziemlicher Sicherheit ebenso ins Reich der Mythen und Legenden,
wie die Sache mit dem Teufelsbund, wobei es um diese ja eigentlich
schon fast schade ist, so schön wie sie auf sein Leben gepasst
hätte... immerhin sagte man ihm ja auch eine ausgesprochen
kriminelle Vergangenheit (einschließlich eines Mordes an seiner
Geliebten) nach. Bram Stokers Roman Dracula erschien zum Glück erst
knappe 50 Jahre nach Paganinis Tod, sonst hätte man sich mit der
Vampirsache vermutlich auch seine außergewöhnliche Blässe, sowie
seine überwiegend nächtliche Tätigkeit erklärt... vielleicht hat
ja jemand Lust, die Gerüchteküche ein bisschen anzuheizen und die
Vampirgeschichte zu verbreiten? Ich wäre auf jeden Fall dabei :)
Nachdem
die Marfan-Geschichte nun auch abgefrühstückt war, begannen
großangelegte Untersuchungen an Paganinis Überresten, bei welchen
selbst Dinge wie Milbenfraß an der Haarstruktur protokolliert wurde,
was ich persönlich jetzt bei einer 180 Jahre alten Leiche nicht
wirklich bahnbrechend finde, aber ich bin ja auch kein Nekrologe oder
Paganiniforscher oder sonstiges.
Dass
man als Todesursache Syphilis oder eine Quecksilbervergiftung (oder
eine Quecksilbervergiftung durch die Behandlung der Syphilis)
vermutet, reißt vermutlich niemanden vom Hocker. Abgesehen davon,
dass Syphilis damals tatsächlich schon deshalb verbreiteter war als
heute, weil man mit den Symptomen zunächst nichts anzufangen wusste,
sie für eine Grippe hielt und hinterher vermutlich erst recht nicht
zum Arzt ging, weil man gesellschaftlich durch das Raster gefallen
war, sobald die Sache publik wurde, starb so ziemlich jeder
Komponist dieser Zeit, der etwas auf sich hielt, an einer der drei
Lieblingsursachen: Syphillis, Quecksilber oder Blei, wobei ich
diesmal nicht auf eine Schießerei hinauswill, sondern auf die
Bleibelastung des Trinkwassers durch die entsprechenden Rohre.
Was
aber war nun die Ursache für Schmidtchen Paganinis elastische Beine
Finger? Eine weitere Krankheit, die sich in einer Störung des
Bindegewebes manifestiert, eine Art Über-Cellulite sozusagen, die
nicht nur für schlaffe Oberschenkel, sondern auch für die
entsprechende Haut- und Sehnenstruktur ist das Ehlers-Danlos-Syndrom
das in unterschiedlichen Stärken vorkommt und tatsächlich weiter
verbreitet ist, als man aufgrund des doch relativ unbekannten Namens
vermuten möchte. Tatsächlich zähle ich sogar selbst zu diesen
Leuten (Typisches Zeichen für meinen Typ: Ich kann mit meiner
Daumenspitze meinen Unterarm berühren (und ehe ihr jetzt alle „ich
auch!“ ruft: Ich meine den Arm desselben Daumens), die obersten
Fingergelenke um 90° in die verkehrte Richtung biegen und meine
Handflächen auf dem Rücken gegeneinander pressen. Nur, und damit
kann ich vermutlich die gesamte Theorie vom unfairen
Wettbewerbsvorteil aufgrund irgendwelcher krankheitsbedingten
Superkräfte in die Tonne kloppen: Ich kann trotz Allem noch lange
nicht Geige spielen. Von „Alle meine Entchen mal abgesehen“, aber
das bekommt man vermutlich auch ohne Ehlers-Danlos-Syndrom hin.
Selbst, wenn man nicht Paganini heißt.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen