Entscheiden Sie sich jetzt! Was ist eigentlich ein Melophon?
Als ich den Begriff
„Pseudoorgel“ (Pseudoorgue) zum ersten Mal las, fühlte ich mich spontan in
meine Kindheit zurückversetzt: In meine ersten Versuche, bei der musikalischen
Früherziehung einmal den Friedemann zu geben und in die Orgeltasten zu hauen,
dass all den Barockschnullerkindern vor Schreck die Blockflöte aus dem Mund
fiel. Toccata und Fuge, volles Programm eben. Das mir eigene Instrument bestand
aus knallorangefarbenem Vollplastik, musste eine Viertelstunde vor Spielbeginn
eingeschaltet werden, um der Kiste genug Zeit zu geben, sich mit Luft
vollzupumpen, und ist vermutlich verantwortlich für mein äußerst gespaltenes
Verhältnis allen Orgeln gegenüber. Erstens war der Elektromotor, ein Wunderwerk
der Spielzeuginstrumententechnik der 70er Jahre, fast lauter als die Töne, die
er zu erzeugen vermochte, und zweitens bewegte sich der Informationsaustausch
(Drücken der Taste --> Freisetzen der Luft --> Erklingen des jeweiligen
Tons) mit der Geschwindigkeit einer orientierungslosen Gartenschnirkelschnecke,
der die Füße schmerzen, weil sie unbedingt die hübschen, aber unbequemen
Ballerinaschneckenschuhe anziehen musste. Letzte Woche, als sie sich auf den
Weg machte, der bereits ganze zehn Zentimeter umspannt.
Man konnte also, wenn man
seine Finger nur schnell genug bewegte, bereits fertig sein und bei einer Tasse
Tee vor dem Fernseher sitzen, während das Instrument noch den Fehler bei Takt
38 machte, der einem beim Spielen selbst gar nicht aufgefallen war. Hach, die
großen Zeiten der Bontempi-Orgeln eben.
Eines schönen
Nachmittags, der eigentlich ein Vormittag hätte werden sollen, wenn denn der
Herr Verratichnicht und ich es geschafft hätten, uns rechtzeitig aus den Federn
zu schälen und auf die Socken zu machen, beschlossen wir, uns ein wenig
weiterzubilden, durchwanderten das Berliner Kupferstichkabinett, um uns „Bilder
der Musik von Magenta bis Matisse“ anzusehen, betrachteten die Ausstellung im
gleich daneben liegenden Kunstgewerbemuseum, und beschlossen anschließend, auch
dem Musikinstrumentenmuseum einen kleinen Besuch abzustatten. Ein Beschluss,
der allerdings in Anbetracht der fortgeschrittenen Uhrzeit nicht mehr zur
Durchführung kam: Wir hätten wahrlich die Beine in die Hand nehmen und
hindurchrennen müssen, weshalb wir uns entschlossen, die Sache zu vertagen und
nur in den ausgelegten Büchern und Prospekten herumzustöbern. Tja, und dabei
entdeckte ich es dann: Das multikulturellste aller Multikultiinstrumente: DiePseudoorgue, auch Melophon (Honigklinger) genannt, entwickelt in Frankreich im
Jahre 1837 von Pierre Charles Leclerc,
einem Uhrmacher, der offensichtlich nicht so wirklich wusste, was er eigentlich
wollte.
Auf den ersten Blick
erinnert das gute Stück ein wenig an einen Cellokoffer, bei dem sich jemand mit
der Halslänge verrechnet hat, und die Tatsache, dass man das Instrument
tatsächlich aufklappen und einen Blick ins Innere werfen kann, verstärkt diesen
Eindruck noch, allerdings befindet sich im Inneren nicht das eigentliche
Instrument, sondern ein Blasebalg und
Durchschlagzungen, denn die Verwandtschaft mit der Orgel ist tatsächlich
gegeben, allerdings nur auf den allerersten Blick: Der Ton wird über einen
Blasebalg erzeugt, die Pfeifen wurden aus Platzmangel jedoch durch Metallzungen
ersetzt, was bedeutet, dass die Orgel beim Vaterschaftstest aufatmen kann, das
Akkordion, an das zunächst gar niemand gedacht hatte, jedoch in arge Bedrängnis
gerät.
Auseinander- und wieder
zusammenziehen wie eine Ziehharmonika lässt sich das Instrument natürlich
nicht, statt dessen besitzt es eine Art Ausziehgriff am unteren Ende, also
dort, wo bei einem Streichinstrument, dem der Korpus ja nachempfunden ist, der
Stachel, oder der Endknopf liegen würde. Da habe ich mich vorhin noch über
meine Kinderorgel beschwert, die man rechtzeitig einschalten musste, und nun
haben wir hier ein Instrument, das man vor dem Spielen von Hand aufpumpen muss,
ich weiß nicht, irgendwie erinnert mich der Pumpgriff an einen Oldtimer, bei
dem der Fahrer erst einmal kurbeln muss, um dann so schnell er kann wieder auf
den Fahrersitz zu springen, ehe der Motor wieder ausgeht.
Also doch kein Akkordion,
sondern eher ein Harmonium? In Bezug auf die Tonerzeugung vermutlich schon, ja.
Spieltechnisch gesehen ist dann aber alles wieder etwas anders: Der Hals des
Instrumentes erfüllt nämlich tatsächlich eine musikalische Funktion, im
Gegensatz zu den heutigen Synthesizern mit Griff, mit denen sich besonders
Glam-Rocker gerne auf der Bühne zeigen. Bei diesen auch „Keytar“ genannten
Instrumenten dient der Griff einzig zum Zuschalten von Sounds. Und zum
Festhalten. Und zum Posen.
Der Griff eines Melophons
dient dagegen zum „Abgreifen“ nicht vorhandener Saiten. Stattdessen werden an
diesen Stellen Knöpfe gedrücht, die quasi die Funktion der Tasten eines
reinrassigen Harmoniums innehaben, weshalb es auch jeder Saiteninstrumentalist
sofort spielen können sollte. Harmonium und Streichinstrument in einem, also?
Ja... fast. Ich bin
sicher, wir finden etwas, das wieder Verwirrung in die beginnende Klarheit
bringen wird.
So zum Beispiel die
Zeitschrift für Instrumentenbau, die das Instrument in ihrer Ausgabe vom 1.
September 1888 als mit einer Zither verwandt beschreibt. Allerdings scheint es
bei diesem Instrument unterschiedliche Bauweisen gegeben zu haben. Also auch
wieder nichts, auf das man sich verlassen kann.
Immerhin erfahren wir bei
dieser Gelegenheit, dass die U-förmige Luftpumpe am unteren Ende mit dem Fuß
bedient werden soll, den man quasi hineinstellt und dann immer wieder nach
unten tritt (Fotos von Spielern zeigen sie jedoch eher mit der rechten Hand am
Zug), während man mit der linken Hand die Knöpfe am Hals drückt, als wären es
die Bünde einer Zither (oder eben die Saiten einer Gitarre, einer Geige, was
auch immer, es scheinen insgesamt 7 virtuelle Saitenreihen gewesen zu sein, was
es zu keinem der genannten Saiteninstrumente in Bezug stellt, mich aber an
Marin Marais und die siebente Saite auf der Gambe erinnert).
Ganz ehrlich: Ich habe so
langsam das Gefühl, dass es sich hier um so etwas wie die Tardis der
Musikinstrumente handelt: Von außen ein unscheinbarer kleiner Koffer, von innen
ein aufs Verwirrendste zusammengewürfeltes Spaßorchester. Und der erzeugte Ton
mag zwar ganz nett gewesen sein, schien den Aufwand jedoch in keiner Weise
gerechtfertigt zu haben, denn erstens existiert gerade mal eine bekannte Komposition,
die das Melophon als Orchesterinstrument nutzt, und zweitens war der Hype dann
doch relativ schnell vorbei und die Produktion wurde im folgenden Jahrhundert
nicht fortgesetzt.
Dass das Melophon / die
Pseudoorgel ein Identitätsproblem hat, zeigt sich nicht zuletzt an der
Tatsache, dass es sich hinter zwei unterschiedlichen Namen versteckt, von denen
keines einen Hinweis auf seine wahre Herkunft gibt. Tatsächlich gaukeln beide
Namen Verwandtschaften vor, die so gar nicht existieren. Und das Melophon, der
Name, unter dem es außerhalb des französischen Sprachraumes firmiert, ist der
größte Schummelversuch von allen: Dieser Name ist nämlich schlichtweg geklaut. Es gibt bekanntermaßen
noch ein weiteres Instrument, das diesen Namen führt und das um ein Vielfaches häufiger
anzutreffen ist, als unser aufgeblasener Cellokoffer hier. Das „andere“ Melo-
oder auch Mellophon ist ein Blasinstrument, das sich, im Gegensatz zur
Pseudoorgel sogar heute noch einer gewissen Beliebtheit erfreut.
Was also stimmt nicht,
mit dem Melophon? Hat es irgendwann bei einem Geigenbauer einen Wartungsvertrag
unterzeichnet, sich dann vor der Zahlung gedrückt und ist nun gewissermaßen auf
der Flucht vor seinen Gläubigern? Daher die gefälschten Papiere? Oder steuern
wir einem dieser Namens-Urheberrechtsprozesse entgegen, wie sie von Bands oder
Firmen immer wieder geführt werden? Als
der Komponist und Musiker Giulio Regondi auf einer Konzertreise in den Jahren
1840-1841 eine Konzertina als Melophon ankündigte, schien sich ebenfalls kein
Mensch zu veräppelt zu fühlen. Kein Wunder: Auch die Konzertina schmückte sich
gelegentlich mit diesem Namen. Vielleicht sollten wir aufhören, die Bezeichnung
„Melophon“ als wirklichen Namen, sondern vielmehr als Klangbeschreibung zu
sehen. Alles, was süßlich klingt, darf sich ab sofort als Melophon bezeichnen.
Es wundert sich ja auch kein Mensch, warum so ziemlich jeder, der auf
irgendwelchen Parties für die Mukke sorgt, mit Vornamen DJ heißt.
Seit Neuestem geistern ja
diese Gentests durch das Internet, mit deren Hilfe tiefschwarze Blogger aus
Mittelamerika herausfinden, dass Sie eigentlich schneeweiß sind und aus
Schwerte-Ergste stammen, oder blondierte Beauty-Bloggerinnen mit derartigen
Mengen an Highlighter auf den Wangen, dass sie ihre Softboxen eigentlich
ausschalten und einen Haufen Strom sparen könnten, erfreut feststellen, dass
sie zu 50% vom Neandertaler abstammen, was ihre Neigung, Dinge aus der Drogerie
einzusammeln und quasi für den nächsten Winter in ihre Höhle zu schleppen,
erklärt. Vielleicht wäre das ja eine Möglichkeit, die Identitätskrise zu
beenden und das Pseudo-instrument in ein echtes zu verwandeln. Mit einem
eigenen Namen, der mit etwas Glück sogar verrät, worum es sich eigentlich
handelt, bei unserem Cellokoffer.
Nö, ich komm hier nicht raus. Dann mach halt die Türe zu, mir doch egal!
Der Nachteil am Landleben.... viele, viele, viele Blätter :)
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