So langsam wie möglich: John Cage in Halberstadt


Über John Cage, den Doctor Who der Musik, kann man ja viel sagen. Gutes und Schlechtes, abhängig vom eigenen Geschmack und dem Willen, auch außergewöhnliche Weltanschauungen zuzulassen. Man kann ihm krankhaften Provokationsdrang vorwerfen, Unbezähm- und Unbelehrbarkeit, man kann sogar an seinem Verstand zweifeln. Nur eines kann man ihm wohl nicht ankreiden: Das Bandwagon- Syndrom; das mainstreamgeprägte Verhalten, auf jeden Zug aufzuspringen, der gerade Fahrt aufnimmt. Cage sprang auf überhaupt keinen Zug auf. 
Ganz Sohn des Erfinders John Cage, dessen Erfindungsreichtum offensichtlich am Ende angekommen war, als es darum ging, einen Namen für sein Kind auszuwählen und der deshalb flugs seinen eigenen reproduzierte, konstruierte Cage seine Züge selbst und stellte dabei gleich die gesamte Idee eines Schienensystems infrage. Hätte John Cage tatsächlich – wie sein Vater – sein Geld nicht als Komponist, sondern als Ingenieur verdient, hätte er seine Züge vermutlich übers Wasser fahren lassen. Natürlich wären sie dabei gnadenlos untergegangen, aber erstens gibt es meines Wissens keine Bibelstelle oder sonst eine unumstößliche Aussage darüber, dass der Lebens- oder besser „Existenzzweck“ eines Zuges im Erreichen des Zielbahnhofes besteht, und zweitens hätte Cage die ganze Geschichte vermutlich zum Anlass genommen, den Untergang des menschlichen Schaffens an sich zu zelebrieren und die Frage in den Raum zu stellen, inwiefern man bereits glaubt, eine Art Schöpfer zu sein, nur weil man mit Ach, Krach und zehn Dosen Locktight in der Lage ist, Dinge zu erschaffen, die ein paar lebensnahe Funktionen wie Energieaufnahme und -Verbrennung (=Stoffwechsel), Bewegung, Funktionszeitraum (=Lebenszeit) und deren Ende (=Tod) aufweisen. 
Die Antwort liegt, wie so vieles, im persönlichen Empfinden des Einzelnen und sagt damit vermutlich mehr über den Zuschauer, bzw. -Hörer aus, als über den Ingenieur oder Komponisten der ganzen Geschichte.
Die Idee, sich selbst als Komponisten aus dem Geschehen auszuklinken und die ganze Sache wahlweise dem ausführenden Musiker oder gleich dem Publikum vor die Füße zu knallen, finden wir bei Cage häufiger, als wir denken sollten. 
In einer Welt, in der alles zunehmend reglementiert, verschriftlicht, formatiert, mittels Computerprogrammen gespeichert und somit endlos und unverändert reproduzierbar wird, sah er die Kunst im Einmaligen, Zufälligen, Natürlichen, Unwiederholbaren. Wind, der durch die Bäume streicht, kann somit ebenso zu Musik erklärt werden, wie ein protestierender Zuhörer, der wütend vor sich hinschimpfend den Konzertsaal verlässt. 
Dass er gerade damit zur Musik und damit zum Gelingen der ganzen Aktion beiträgt, ist vermutlich der Witz an der ganzen Sache. Ein bisschen wie ein Virus, der erst durch die Impfung gegen denselben aktiviert wird. Gnadenlos genial.
Aber Cage spielt nicht nur mit unserer Vorstellung von Logik, auch die Frage nach der Wahrnehmung von Musik an sich schien ihn nicht loslassen zu wollen. Einige der wichtigsten Parameter, mit denen er sich dabei auseinanderzusetzen hatte, waren sicherlich unser Empfinden von Lautstärke und Tonhöhen. 
Die Arbeit an der Frage nach dem Phänomen der Stille brachte ihn unter anderem in den schalltoten (schallgedämpften) Raum der Universität Harvard, wo er am eigenen Leib erfahren musste, dass Stille für Menschen nicht wahrnehmbar ist. 
Grund dafür ist die Tatsache, dass Nervenzellen nicht einfach „nichts“ machen und in aller Ruhe ihre Hausaufgaben erledigen können, wenn sie einmal nicht gebraucht werden. Die Dinger sind nämlich kleine Streber, die sich immerzu melden und ihre neuesten Wahrnehmungen weiterpetzen wollen. Und wo keine sind, da denken sie sich eben welche aus. Nervenzellen, die auf Außenreize angewiesen sind, beginnen also, diese selbstständig zu produzieren, die Insassen des schalltoten Raums halluzinieren also und hören sozusagen weiße Mäuse. In seinem vielleicht berühmtesten Stück, 4' 33'' trickst er unsere Erwartungen an den Ton dann scheinbar aus, indem er gar keine Töne in das Stück hineinschreibt, aber gleichzeitig davon ausgeht, dass Umgebung und Publikum ihrerseits für ausreichend Geräuschkulisse sorgen werden. Was, wann und wie dabei geschieht, bleibt dem Zufall überlassen und gehört somit zu der von Absichtslosigkeit gekennzeichneten, wenn nicht sogar produzierten Musik.
Einen großen Schritt weiter geht das Stück 0' 00'', das -im Gegensatz zu 4' 33'' – überhaupt keine Vorschriften bezüglich Länge oder Tonproduktion macht. 
Es ist ein „Alles-kannn, nichts-muss-Stück“, bei dem es dem Musiker frei steht, ob und was er tun möchte. Und wie lange er dazu benötigt. Ganz anders als 4' 33'' scheint es hier für den Zuhörer nichts zu geben, woran er sich halten kann, im Endeffekt weiß er nie genau, ob und wann er vor Schreck über einen unerwarteten Ton von Stuhl fällt und ob er überhaupt noch einmal wieder nach hause kommt, denn theoretisch könnte das Stück ja ewig so weitergehen. Womit wir – halleluja – den Bogen zu dem Stück geschlagen hätten, von dem ich heute eigentlich sprechen wollte: Organ², auch bekannt als ASLSP (As Slowly aS Possible), dem Stück, das in seiner Halberstädter Form im September 2010 begonnen wurde und sich über 639 Jahre erstrecken wird (solange niemand zwischenzeitlich auf die Idee kommt, sich einen der Blasebälge auszuleihen oder einen Stromausfall zu produzieren.
 
Cage selbst gab keinerlei Erklärung dazu ab, wie langsam, denn nun so langsam wie möglich zu sein hatte, um einigermaßen durchzugehen. Wie sehr sich das Empfinden für Geschwindigkeit unterscheiden kann, sieht man, wenn man mit einem Fahrrad eine Straße hinunterfährt und dabei etwa 30 km/h in die Pedale schleudert. Jup, es ist relativ schnell, Feierabenverkehr, Sonntagsfahrer und „Smombies“ (scheinbar orientierungslos herumeiernde Fußgänger mit Ohrstöpseln und Smartphone) machen das ganze gefühlt noch ein bisschen schneller, da gefährlicher. In meiner Schulzeit hatte ich es morgens des Öfteren mal unfassbar eilig und hätte meine Mutter, die sich strikt an die 30km/h-Vorschrift in der gefühlt 100Km langen Straße zum Schulkomplex jedesmal aus dem Wagen zerren und selbst das Steuer übernehmen wollen, so unglaublich langsam war dieselbe Geschwindigkeit in diesem Moment. Meinen griechischen Exmann nannte ich früher übrigens „Helona“, was das griechische Wort für Schildkröte ist, weil ich es manchmal kaum glauben konnte, wie lange er an den einfachsten Dingen herumwerkelte... nunja, er nannte mich Frau Ungeduld...falls sich jemand wundern sollte, weshalb wir nicht mehr zusammen sind …..
Kurz gesagt: Ein Bratschist, der die Orgel übernimmt, hat vermutlich eine andere Vorstellung davon, was „So langsam wie möglich“ ist, als ein Organist, der ganz dringend zur Toilette muss. Bei der Uraufführung im Jahr 1989 wurde dem Organisten nach 29 Minuten der Arm lahm, 2009 brachte es Diane Luchese bereits auf 14 Stunden und 56 Minuten, der nächste machte dann 24 Stunden daraus und arbeitet bereits an 48 (vermutlich testet er zwischenzeitlich, wieviel man trinken kann, um nicht zu verdursten, dabei aber alleine durch Verdunstung dem Toilettengang zu entgehen). Von daher ist die Halberstädter Aufführung auch eine kleine Schummelei, denn natürlich sitzt nicht durchgehend ein und derselbe Organist an diesem Stück, segnet dann irgendwann zwischen dem a' und dem e' (geplant ist der Wechsel für das Jahr 2027) das Zeitliche und mottet auf seiner Holzbank fröhlich vor sich hin. In Halberstadt hängen Säcke mit Gewichten an den Tasten. Und die müssen nicht aufs Klo. In 639 Jahren nicht.


 So sieht eine "Food-Fear-Challenge" in etwa aus... wir probieren etwas, das wir eigentlich nicht leiden können, um zu sehen, ob es nicht doch essbar ist... rote Bete aus dem Glas beispielsweise...
...wobei das Ergebnis doch relativ eindeutig ist...





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