Alle Ohrwürmer sind gut drauf! Warum Musik so penetrant sein kann
Das war nicht
besonders nett von mir, nicht wahr? Ohne Vorwarnung so einen
grenzdebilen Song zu verlinken. Aber weshalb sollte ich die einzige
sein, die diese musikalische Essstörung seit geschlagenen 20 Jahren
nicht mehr aus dem Kopf bekommt? Beinahe jedes Mal, wenn sich irgend
jemand darüber beschwert, dass das Leben im Berufsbereich Musik ein
ewiger Kampf sei, geht es wieder los, in meinem Kopf. Und nicht
irgendwie, sondern a la Bordelaise.
Grund dafür ist eine
Unterhaltung, die ich damals anlässlich eines Lachflashes über diese
kulinarische Volksverdummung mit meinem Bruder führte, und bei der
wir uns einig waren, dass es ein Jammer sei muss für einen
studierten Sänger, auf Jobs angewiesen zu sein, bei welchen man
Geschirr synchronisiert. Noch schlimmer ist es allerdings, den
singenden Fischteller in seinen Lebenslauf aufzunehmen, um etwas
vorweisen zu können, sollte man nach Referenzen gefragt werden.
Und genau das
scheint der Punkt zu sein, wenn es um das Abspielen von Ohrwürmern
geht: Unser Gehirn koppelt Musik (die wir im Übrigen noch nicht
einmal besonders gerne mögen oder bewusst gehört haben müssen) an
Gefühle oder Situationen. In meinem Fall ist die Bordelaise (Klingt
irgendwie wie ein Barocker Tanzstil, nicht wahr? Allemagne, Courante,
Gigue und Bordelaise) eben an meinen Bruder und die Situation im
Wohnzimmer gekoppelt. Oder an den Konsum von Werbung an sich. Und
sobald uns etwas an diese Situation, diesen Menschen oder eben dieses
Gefühl erinnert, kann es theoretisch losgehen mit der Endlosschleife
im Kopf. Ja, endlos. Dem Kasseler Musikwissenschaftler Jan Hemming
zufolge können diese Undinger nämlich auch wochenlang anhalten.
Oder eben jahrzehntelang immer wieder auftauchen. Darauf einen
Dujardin. A la Bordelaise.
Das nervt, nicht
wahr? Immer wieder dasselbe Muster, dieselbe Idee, die man einfach
nicht aus dem Kopf bekommt, die einen im Alltag dazu bringt,
ungleichmäßige Schritte zu machen, um im Kopf nicht aus dem Takt zu
geraten, oder abzuwarten, bis die Phrase zu Ende ist, ehe man einen
neuen Raum betritt oder eine neue Handlung beginnt. So gesehen
verwundert es eigentlich nicht, dass Ohrwürmer als sehr schwache
Form einer Zwangsstörung gelten, wobei ich vermute, dass es
schwierig werden könnte, sich mit der Diagnose „Ohrwurm“
krankschreiben zu lassen. Schade eigentlich, dann hätte ich endlich
ziemlich viel Freizeit, denn ich gehöre sozusagen zur „Risikogruppe
Nummer eins“ unter den Ohrwurmhörern: Ich bin erstens eine Frau
(Ja, die sind häufiger davon befallen), zweitens künstlerisch
tätig, drittens ohnehin ziemlich sensibel und außerdem häufig
gestresst. Schlimmer kann es eigentlich gar nicht kommen. Es sei
denn, man ist ein weiblicher, musikalisch-gestresster Fischteller.
Das wäre dann vermutlich nicht mehr zu überbieten.
Das wirklich Blöde
an einem Ohrwurm ist aber die Eigendynamik, die sich beim „inneren“
Hören des Musikstückes entwickelt, denn bekanntlich bleiben uns
Dinge desto besser in Erinnerung, je öfter wir sie tun, sehen oder
hören. Im Falle eines Musikstückes stellt sich dieses
Wiedererkennungsprinzip bereits nach mehrmaligem Durchspielen eines
Stückes ein. Unser Gehirn freut sich schon bei der ersten
Wiederholung, der ersten Wiederaufnahme eines Themas: Es ist nicht
mehr allein in der Fremde, da ist ihm soeben etwas Bekanntes über
den Weg gehüpft. Da lassen wir doch gleich ein paar Schmusehormone
ausschütten und die Finger spielen die ja eigentlich nie gespielte
Passage fast schon von alleine. Manche Stellen gehen uns dabei
natürlich schneller und leichter von der Hand als andere. Diese
Stellen erscheinen uns besonders einleuchtend oder besonders schön,
erinnern uns unbewusst an etwas anderes, das wir kennen oder werden
einfach oft genug wiederholt. Der Rest stinkt dann ein bisschen ab
gegen diese „Lieblingsstellen“ und hat es noch ein Stückchen
schwerer, sich im Gehirn zu manifestieren. Wer es nicht glaubt, summe
mal aus dem Stegreif eine Passage aus J.S. Bachs drittem
Brandenburgischen Konzert, in dem NICHT das dreitönige
Fortspinnungsmotiv erscheint (joooooor, so eine gibt
es...mehrmals...auch wenn sie nicht ganz so präsent ist). Im
Zweifelsfall tut es dann auch das Anstupsen des Nachbars mit der
Aufforderung „Sing mal schnell eine Stelle aus Beethovens 5., aber
nicht die mit dem Dädädädääääää“... Tja, so macht man sich
Feinde.
Nun spult unser Gehirn also diesen Ohrwurm immer wieder ab, was einer hundertfachen
Wiederholung des Stückes, bzw. des entsprechenden Fragmentes beim
Üben gleichkommt. Und „üben“ tun wir es quasi jedes einzelne
Mal, wenn wir es innerlich mitsingen. So etwas prägt sich ein. Fürs
Leben. Selbst dann, wenn wir und nur eine ganz kleine Stelle aus dem
Stück merken konnten (im tollsten Fall noch fehlerhaft...das bekommt
man gefühlt nie wieder aus dem Hirn, wenn man es dann tatsächlich
einmal irgendwo „in echt und fehlerfrei“ spielen muss) oder (was
häufig genug vorkommt) der Sprache des (in diesem Falle dann wohl)
Liedes nicht mächtig sind und Bits und Bytes unserer
Gehirnspeichermasse mit „hmmm-iswonnofea-loooo“ zuspammen. A la
Borderlaise.
Dass man sich mit
Ohrwürmern infizieren und diese quasi im Selbstläufermodus immer
wieder hervorholen und perfektionieren kann, wissen wir nun also,
wobei uns das ein Blick in unseren Erfahrungsschrank auch hätte
sagen können. Bleibt noch die Frage: Wozu muss das denn dann
überhaupt jemand erforschen? Damit diese ganzen kognitiven
Musikwissenschaftler ihre teure Ausbildung irgendwie vertreten
können?
Die Antwort liegt wie fast immer auf der Hand: Weil man
damit unter Umständen eine Menge Kohle machen kann. Und das nicht
nur, weil man sich auf diese Weise eine Stelle an einem teuren Institut sichert, sondern weil im Endeffekt ganze Wirtschaftszweige
von der Geschichte profitieren können. Allen voran natürlich die
Musikindustrie: Wenn sich unzweifelhaft vorhersagen ließe, welche
Eigenschaften ein Song haben müsste, um als absoluter Ohrwurm zu
gelten, könnte man quasi „flopfrei“ produzieren. Und auch die
Werbeindustrie hätte ihre Freude an der Geschichte, denn so ein
eingängiger Werbesong, der kann schon die Kasse klingeln lassen.
Dass sich die
tatsächlichen Ohrwürmer zwar häufig aus individuellen Erlebnissen
heraus entwickeln, ist bei der Erschaffung eines Verkaufsschlagers
zwar hinderlich, allerdings nicht unumgänglich, denn die besagten
„schönen Gefühle“ lassen sich ja auch mittels eben dieser Musik
in diesem Augenblick erzeugen, so dass uns die Situation, in welcher
wir das Stück hören, im Grunde auch egal sein Kann. Dazu klopfen
wir mal wieder bei unserem mit Erinnerungen und Gefühlen verbundenen
Gehirnbereich „Amygdala“ an (Nein, das ist nicht die Prinzessin
aus Star Wars) und messen mal flugs nach, bei wie vielen Probanden
welches Stück das Belohnungszentrum unter unseren Denkzellen
aktiviert. Und schon haben wir zumindest einen Anhaltspunkt dafür,
welche Motive dazu beitragen könnten, quasi einen oralen Orgasmus
auszulösen und uns mit flatternden Einkaufstaschen in die nächste
Drogerie oder den Supermarkt zu schicken. Soweit jedenfalls die
Theorie. Wenn da nicht das blöde Problem mit dem Individualismus des
Hörers wäre. Wir springen eben nicht alle auf die gleichen Sachen
an. Und so ganz lässt sich auch kein Zusammenhang zwischen „Finde
ich schön“ und „Kaufe ich“ herstellen. Jedenfalls nicht so
klar, wie die Damen und Herren Forscher das gerne hätten. Leider.
Oder Gott sei Dank.
Noch vor wenigen
Jahren, bzw. Jahrzehnten, drehte die Werbeindustrie die ganze
Geschichte übrigens gerne herum und nahm einen bekannten
„Gassenhauer“, ein Stück, das sich über Jahrzehnte oder gar
Jahrhunderte in den Köpfen der Leute gehalten hatte (Auch vor
Jahrhunderten gab es bereits Ohrwürmer der allernervigsten
Sorte...fragt mal den guten Johann Wolfgang Goethe, was er zu Carl
Maria von Webers „Wir winden dir den Jungfernkranz“ zu sagen
hatte...da kommt garantiert nicht Nettes dabei heraus, so präsent
war das Stück, dass keine Flucht davor möglich schien.), legte
einen neuen Text darüber und sorgte dafür, dass die „jungen
Leute“ bald nicht mehr wussten, was denn nun eigentlich das
Original war...“Radetzky-Marsch? Was soll das denn sein? Ach soooo,
der Mais marschiert. Warum hast Du das nicht gleich gesagt? Lecker, lecker Bonduelle! Aber wer dieser Strauss war, weiß ich irgendwie immer noch nicht. Hat der etwas mit Gemüse zu tun?" Oder Rossinis Wilhelm-Tell-Ouvertüre, die sich
mit dem Text der die Spartarife der Bahn anpries, noch besser
schmettern lies... dann schon lieber Maggi Fix. A la Bordelaise.
So ganz den Stein
der Weisen haben sie noch nicht gefunden bei ihren
Ohrwurmforschungen, aber sie sind fleißig dabei und werden die
Werbeindustrie vermutlich irgendwann revolutionieren.
Und für diejenigen
unter uns, die inzwischen verzweifelt versuchen, den Fischtellersong
aus dem Kopf zu bekommen, habe ich zwei Tipps auf Lager:
Erstens: Sucht den Song, der euch quasi fragmentarisch im Kopf herumtanzt und immer wieder denselben kleinen Ausschnitt vorspielt, heraus und lernt ihn ganz. Von Anfang bis Ende. Dann hört wenigstens diese Endlosschleife einer einzelnen Partie daraus auf.
Erstens: Sucht den Song, der euch quasi fragmentarisch im Kopf herumtanzt und immer wieder denselben kleinen Ausschnitt vorspielt, heraus und lernt ihn ganz. Von Anfang bis Ende. Dann hört wenigstens diese Endlosschleife einer einzelnen Partie daraus auf.
Und zweitens: Hört
euch doch ganz einfach das hier an. Das schlägt jeden bisherigen
Ohrwurm um Längen. Versprochen.
Tja, so harmlos hat es angefangen... "bitte nur ein bisschen Spitzen schneiden,
die Länge soll bleiben"
Dann wurde es doch noch etwas kürzer...
-Frau Finemang, was ist Ihr Laster?
-Amok sägen, mit dem Hoch-Entaster!
Keine Sorge, der Garten ist noch da... immerhin hat die neue Frisur gezeigt, dass ein paar schon vor Monaten fürs Fällen vorgesehene Bäume doch noch bleiben können.
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