Die Abnippel-Kantaten
Vor etwa 20 Jahren war ein Buch in
aller Munde: “Schlafes Bruder” von Robert Schneider erzählt die
schreckliche Geschichte eines Wunderkindes an der Orgel. Der
musikalisch überdurchschnittlich begabte Elias, der um die Wende vom
17. zum 19. Jahrhundert in einem von Inzest und Vorurteilen geprägten
Bergdorf aufwächst, von seiner Mutter jahrelang weggesperrt wird und
sich selbst das Orgelspielen beibringt, beschließt eines Tages nicht
mehr zu schlafen, um nicht die Zeit, die er damit zubringen könnte,
die Liebe zu seiner Cousine Elsbeth zu fühlen, mit Schlaf zu
vertrödeln. Dass er damit seinem Leben ein ziemlich qualvolles Ende
setzt, ist ihm ebenso egal wie die Tatsache, dass er seinen (in
ihn verliebten) besten Freund in diese Suizidgeschichte verwickelt,
der schwören muss, ihn nicht zu retten und auch niemandem etwas zu
verraten.
Der Titel “Schlafes Bruder” ist
J.S. Bachs Kreuzstabkantate (“Ich will den Kreuzstab gerne tragen”,
BWV 56) entnommen (Schlusschoral), dem Stück, das Elias spielt und
über dessen Thema er improvisiert, als ihm dieser absonderliche
Suizidgedanke kommt. Eigentlich ein wunderschönes Stück klick
, das allerdings ziemlich viel Jenseitssehnsucht spüren lässt. Die
Sache mit dem Kreuzstab, den man selbst tragen möchte ( auf dem Weg
nach Golgatha kommt es auf den einen oder anderen Leistenbruch ja
ohnehin nicht mehr an), hätte ja eigentlich ganz wunderbar zum
Karfreitag gepasst, wieauch die ansonsten recht trübe Stimmung der
restlichen Kantate, jedoch gehört sie mitten in den Herbst (3.
Sonnatg nach Trinitatis) und erzählt die Geschichte der Heilung des
Gichtkranken (Matthäus 9 ), dem seine Schmerzen am Ende dermaßen an
die Substanz gehen, dass er nicht mehr leben möchte. Spaß ist etwas
anderes, aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass es der
gute Herr Bach ohnehin mit dem Tod hatte.
In den Reigen dieser
Abnippelkantaten reihen sich mehr Werke ein, als es aus
psychologischer Sicht noch als gesund gelten könnte:
“Es ist genug, Herr wenn es Dir
gefällt, so spanne mich doch aus!” (BWV 20), “Komm, O Tod, Du
Schlafes Bruder” (BWV 56), “Ich freue mich auf meinen Tod” (BWV
82), “Komm, Du süße Todesstunde” (Bwv 161), “Schlage doch,
gewünschte Stunde” (BWV 53)...die Liste ist länger. Echt. Wenn
man sich diese Titel so ansieht, könnte man fast den Eindruck
gewinnen, der gute Johnny sei ein bisschen lebesmüde gewesen.
Irgendwie passt das sogar zu der durch den Fund der
Fleckeisen-Berwerbung losgetretenen Vermutung, Bach seien seine
Thomaner in den letzten Jahren gelinde gesagt scheißegal gewesen, er
habe nicht mehr mit ihnen gearbeitet, sondern statt dessen zuhause
auf dem Sofa geflätzt und sein Burn-out-Syndrom kultiviert, während
ihm seine Frau den Hintern nachtrug. Wobei die Tatsache, dass sich
große Teile der Kantate “Ich habe genug” (BWV 82) ausgerechnet
in dem Notenbüchlein wiederfinden, das er einst für seine Frau
angelegt hatte, vielleicht nicht unbedingt dafür spricht, dass die
große gegenseitige Liebe und Fürsorge die engen Räume gegenüber
der Thomaskirche erwärmten und erhellten. Allerdings hatte sie es
wohl selbst instrumentiert...wäre ja auch mal eine nette Art,
Ehezwistigkeiten auszutragen: Er knallt ihr so einen Satz vor die
Füße ("Jetzt hab ich aber genug!") und sie denkt sich “da pfeif ich doch drauf, oder besser
noch: Ich schreibe eine schöne Continuo-Begleitung dazu!” :)
Nein, so wird das sicher nicht gewesen
sein, dagegen sprechen schon die Entstehungsdaten der Stücke, aber
gerade “Ich habe genug” ist für die Feier der Mariä Lichtmess
geschrieben worden. Wer sich mit diesen Bräuchen nicht auskennt: Dem
moseischen Gesetz zufolge galt eine Frau nach der Geburt eines Sohnes
40 Tage lang als unrein (hört sich erstmal böse an, aber ich denke,
die Idee, 40 Tage nach einer Geburt nicht auch noch begrabbelt zu
werden, hat auch etwas Beruhigendes). Mariä Lichtmess findet genau
40 Tage nach Jesu Geburt statt, Maria war damit gereinigt, das Kind
konnte im Tempel dem Herrn geweiht (und hinterher gegen ein
symbolisches Lösegeld wieder mit nach hause genommen) werden, und
alle ware glücklich. Was nun den Herrn Bach ausgerechnet zu so einem
Tag auf die Idee brachte, eine Kantate zu schreiben, in der es
durchwegs ums Hopsgehen geht (Die Kantate besteht aus den Sätzen
1. Aria: Ich habe
genug; 2. Recitativo: Ich
habe genug; 3. Aria: Schlummert
ein, ihr matten Augen; 4.Recitativo:
Mein Gott! wenn kömmt das schöne:
Nun!; 5. Aria: Ich
freue mich auf meinen Tod und
das Jesukind war gerade einmal eineinhalb Monate alt ), erschließt
sich mir nicht wirklich. Sollte sich jemand darüber im Bilde
befinden, freue ich mich über einen Kommentar. Auch zu Mariä
Verkündigung, dem Tag, an dem die Gottesmutter erfährt, dass sie
ein neues Leben in sich trägt, befasst sich die Musik mit dem
Gegenteil: „Liebster Gott, wenn werde ich sterben?“ (BWV 8) ist
jedoch weitaus zuversichtlicher als man zunächst denken würde, geht
es doch um das Gottvertrauen angesichts des Todes, der einen
gläubigen Menschen nicht schrecken kann.
Wahrscheinlich
konnten es die Bachin und die Bächlein irgendwann einfach nicht mehr
hören. Und als der Hausherr eines Tages (am 28. Juli 1750 um genau
zu sein) erklärte „Mein Odem ist schwach!“ setzte sich Flippie
ans Klavier und Friedi schnappte sich ein Notenheft (im Zweifelsfalle
das von seiner Stiefmutter, in das ohnehin alles hineingeschrieben
wurde, was den Bachs musikalisch so im Kopf herumging) und sagte
„Welche Vorzeichen, Papa?“
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