Die Gottbegnadetenliste - ein Meilenstein der Nazi-Doppelmoral
Stellen Sie sich
folgende Situation vor (nein, bitte nur einen kurzen Augenblick, danach ist es
vorbei und Sie dürfen sich gründlich schütteln und meinetwegen auch eine kalte
Dusche nehmen): Sie sind ein Nazi. Und nicht irgendeiner, sondern ein überzeugter,
ein fleißiger und bestrebter, eben das, was Ihre Parteifreunde als einen
"guten" Nazi bezeichnen würden, sofern man dieses Wort in diesem
Zusammenhang überhaupt gebrauchen kann. So wie man ein guter Mathematikschüler
ist: Immer ganz vorne mit dabei, immer bestrebt, die Hausaufgaben fehlerfrei
abzuliefern und vielleicht noch die eine oder andere Extraaufgabe mit zu
erledigen.
Sie arbeiten
fleißig daran, das deutsche Volk auf den Ihrer Meinung nach
"richtigen" Weg zu bringen und kaufen auch schon lange nicht mehr bei
Juden ein. Nicht mal mehr Halvaschnecken mit Schokolade. Sie lesen deutsche
Bücher, sehen deutsche Filme, hören deutsche Musik und haben sich irgendwann so
weit nach vorne gearbeitet, dass Sie in einem Ministerium sitzen und Listen
wälzen dürfen. Ganz besondere Listen sind das: Leute, die in allernächster Zeit
an die Front geschickt werden sollen, um sich für Volk und Vaterland
zusammenschießen zu lassen. Ganz, wie es ihrer Pflicht entspricht. Und wie Sie
da so vor sich hin sortieren, fällt Ihr Blick auf die folgenden Namen: Gerhart
Hauptmann (Ihr Lieblingsschriftsteller, bei dessen Büchern Sie einen Tanz
veranstalten wie Teenager bei der Veröffentlichung eines neuen Harry Potter
Bandes), Richard Strauss, dessen Musik gerade aus dem nagelneuen Radioapparat
hinter Ihnen im Raum erschallt (Natürlich können Sie jedes Stück mitsingen.
Ausnahmslos!) und Carl Orff (Sie hoffen immer noch auf "neue alte"
Texte und damit auf eine Fortsetzung Ihrer Herz- und Seelenmusik, der Carmina
Burana).
Diese drei Menschen
halten Sie neben dem Führer aller Führer und vielleicht Ihrer Ehefrau für so
ziemlich das tollste, was Gott je zusammengebastelt hat. Und nun? Nun sollen
Sie persönlich dafür sorgen, dass diese drei Leute im nächsten Fronteinsatz
über den Haufen geballert werden? O Fortuna, könne Sie sich da nur denken. Wo
ist denn diese Glücksgöttin, wenn man sie einmal braucht?
Ja, und da
sitzen Sie nun und verzweifeln, bis Ihnen ein Licht aufgeht: Sie rufen mal eben
Ihren guten Kumpel Joseph an. Ja, den Göbbels. Der kann Ihnen doch sicher
weiterhelfen bei der Sache, oder nicht? Der findet es sicher auch nicht gut,
dass Herbert von Karajan und der gute Herr Furtwängler für die Sache sterben
sollen. Wer soll denn sonst die Musik dirigieren, die niemand mehr schreiben oder
singen können wird? Denn es tauchen immer mehr Listen mit kriegstauglichen
Künstlern auf, ohne die man in den Zeiten vor der Einführung von Netflix und
Consorten nicht mehr allzu viel unternehmen kann, wenn einem die
Wochenschauberichte wieder mal den Abend versauen und man sich amüsieren gehen
möchte.
Da will man die
Welt von der überragenden Erhabenheit der deutschen Kultur überzeugen, und dann
rottet man diejenigen aus, die eben diese Kultur ausmachen und vorantreiben
sollen? Nee, da muss sich doch etwas machen lassen!
Sie wählen also
Josephs Nummer, der hört sich die Geschichte an, klagt ein wenig über die Größe
der Musik, die er selbst gerne weiter in die Welt hinaustragen würde, wenn er
nicht so eingespannt wäre in diese ganze
Vernichtungsmaschinerie, wählt dass aber doch die Nummer vom Chef, und
schon sitzen Sie da und tüfteln nach hitzigen Diskussionen eine Liste von
zunächst 36 Seiten und 1041 Künstler umfassende Liste aus, die all die Personen
enthält, um die es Ihrer Meinung nach schade wäre, wenn Sie sich eine Kugel
einfangen würden. Der Adi schreibt noch schnell "Gottbegnadete" auf
den Aktendeckel (Adolfbegnadete hätte vermutlich nicht so gut geklungen) und
schon haben Sie zumindest einmal ein paar Leute, wenn auch nicht gerettet, dann
doch immerhin gegen ein paar weniger Begabte eingetauscht. So einfach kann das
gehen, wenn sich die mit dem größten Einfluss zusammensetzen.
Je näher das
Ende des Krieges rückte, desto wichtiger wurde die Liste, denn hatte der gute
Adolf zu Beginn der Planung seiner großen Ballerei noch locker abwinken können,
wenn es darum ging, ob nun ein besonders gut geeigneter, aber leider jüdischer
Sänger vielleicht vom Berufsverbot befret werden könnte, um die Durchführung
der Wagner-Festspiele in Bayreuth nicht zu gefährden (auf diese Weise hatte die
sonst so Regimetreue Winifred Wagner es geschafft, den einen oder anderen
Drachentöter und Göttertenor über die Saison zu retten), so wurde es gegen Ende
dann doch deutlich enger. Anders gesagt: Es ging ihnen irgendwann das Material
aus. Die anderen hatten noch weit mehr Leute stehen und begannen zudem sich
zusammenzutun, Allianzen zu formen, während bei den Nazis die Verbündeten knapp
wurden. Wer noch einigermaßen gerade stehen, den Feind als solchen erkennen und
in seine Richtung ballern konnte, der musste sich darauf einstellen, sein Land
verteidigen zu müssen.
Ganz so einfach
konnte man sich nun nicht mehr aus der Affäre ziehen. Ein einfaches "Sorry
Leute, ich habe ein Orchester zu leiten, ich kann mich jetzt gerade nicht erschießen
lassen!" reichte nun nicht mehr.
Listen dieser
Art hatte es damals, als alles anfng, auch schon gegeben. Schon mit Beginn des
Polenfeldzuges hatte Goebbels eine Liste der wichtigen
"Kulturschaffenden" angelegt,
Diese
Kulturschaffenden hatten nämlich eben dieses zu tun: Die Kultur zu schaffen,,
welche das Volk bei Laune halten und das feindliche Ausland vor Neid erblassen
lassen sollte. Wer sich auf der Liste befand, hatte zumindest ein Bein auf
einigermaßen sicherem Boden. Das andere sollte er nur tunlichst aus
Fettnäpfchen heraushalten, denn die Listen galten zunächst einmal nur auf
Widerruf. Wer sich danebenbenahm, war schneller ausradiert, als er einzählen
konnte.
Ab 1943, also ab
der Verkündung des so genannten "totalen Krieges" wurde es dann trotzdem
etwas eng, was die Abendvergnügungen betraf: Die Theater wurden geschlossen,
die einigermaßen abkömmlichen Künstler wurden eingezogen oder durften in
Fabriken Granaten zusammenzimmern, die anderen durften weitersingen, -spielen
und –dirigieren. Vornehmlich zur Truppenbespaßung und Stärkung der
Kämpfermoral. Um auch davon befreit zu werden und zuhause in Ruhe
weiterkomponieren zu können, musste man schon etwas ganz Besonderes vorweisen
können. Beschreibungen dieser Sonderlisten bezeichnen diese Glückspilze als
"überragendes nationales Kapital!" Schwer zu sagen, ob man mit dieser
Art von Eigenkapital eine Anzahlung auf ein Einfamilienhäuschen im Spreewald
leisten kann, aber wahrscheinlich würde es ohnehin spätestens drei Tage nach
Fertigstellung von den Alliierten weggebombt. Oder auch aus den eigenen Reihen,
denn als auch der Blindeste nicht mehr übersehen konnte, das die ganze
Kriegsgeschichte dem Untergang geweiht war und sich der Anführer dachte
"Wenn wir schon verlieren, dann machen wir wenigstens vorher alles kaputt,
was den Siegern etwas nützen könnte", da erhielten dann schlussendlich
auch Leute wie Furtwängler den Vermerk, dass es sich nun hatte mit der
Kuschelstrategie. Glücklicherweise war der Käse gegessen, ehe der Herr
Furtwängler tatsächlich eine Waffe hätte schultern müssen, und die Angst,
nun doch noch an die Front zu müssen,
hatte sich mit der bedingungslosen Kapitulation ein paar Monate später ohnehin
erledigt.
Übrigens: Ehe
wir uns jetzt hinstellen und sagen "Pah, diese privilegierten
Notenkrakler! Haben es sich zuhause gut gehen lassen, während diejenigen, die
zuvor hart gearbeitet haben, ihren Kopf hinhalten mussten", sollten wir
die folgenden Punkte bedenken:
1)
Haben sie ihre Namen nicht selbst auf die Listen
gesetzt. Anders gesagt: Was kann ich dafür, dass irgendeinem Vollpfosten meine
Musik gefällt? Im Nachhinein konnte sich der eigene Name auf einer derartigen
Liste auch als großes Hindernis erweisen. Man möchte ja auch nicht lobend in
irgendwelchen Stasi-Akten hervorgehoben werden.
und
2) Haben sich die s genannten Gottbegnadeten teilweise nicht unerheblich
für ihre Mitkünstler eingesetzt. So wie Frau Wagners Bitten, doch den einen
oder anderen überaus wichtigen jüdischen Sänger zuzulassen zunächst zumindest
ab und an an Erfolg geknüpft war, setzte sich der mehrfach zitierte Wilhelm
Furtwängler auch immer wieder für jüdische Mitmenschen (wie etwa seinen
Konzertmeister Szymon Goldberg) ein. In einem Dienstschreiben an
Reichskulturverwalter Hans Hinkel schrieb Georg Gerullis (seines Zeichens
Ministerialdirektor im Kultusministerium): "Können Sie mir einen Juden
nennen, für den Furtwängler nicht eintritt?"
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