Forschst Du noch oder stalkst Du schon? Musikwissenschaft und Privatsphäre


„Sag mal,“ bekomme ich des öfteren zu hören, „was machen Musikwissenschaftler eigentlich so?“
Eine Frage, die durchaus ihre Berechtigung hat, deren Beantwortung allerdings gar nicht so leicht ist. Immerhin ist Musikwissenschaft im Grunde nur ein wissenschaftliches Betätigungsfeld und kein Beruf im engeren Sinne, wie beispielsweise „Hebamme“ oder „GEZ-Kontrolleur“. Das sind so Ein-Satz-Berufsbeschreibungen, die man sich in der Wissenschaft manchmal wünschen würde. Im Grunde könnte man genausogut fragen, was Insekten so machen. Die produzieren ja auch nicht alle Honig, schleppen tote Kellerasseln in ihre Kolonie oder schwirren nachts durch fremde Schlafzimmer, um uns das Blut aus den Adern zu saugen. MuWis schreiben Artikel, erforschen alte Instrumente, die es längst nicht mehr gibt, digitalisieren wertvolle Notenhandschriften, rekonstruieren abgebröselte, tintenfraßegschädigte Manuskripte, oder kellnern irgendwo in einer Bar, denn die Anstellungsmöglichkeiten werden einem nicht unbedingt hinterhergeworfen.
„Na gut,“ geht die Fragerei weiter, „Was willst DU denn machen? Ist das ne einfachere Frage?“
„Bachforschung“ antworte ich dann und beeile mich übergangslos weiterzusprechen, um die offensichtlich unvermeidlichen Fragen nach Wasserstandsmessungen und Fischbestand im Keim zu ersticken: Ich brenne für die historische Musikwissenschaft. Und für Menschen. Und solche Leute, die beleuchten das Leben der Komponisten von allen Seiten, durchforsten ihre Korrespondenz, Spesenabrechnungen, Inventarlisten, Mietverträge, Reisebillets, schriftliche Auftragsbestätigungen, erforschen benutzte Papier-, Tinten-, und Federsorten, werfen mit Röntgenstrahlen um sich wie Darth Vader mit Laserstrahlen, um die untersten Schichten mehrfach überkritzelter Schriftstücke zu entdecken und durchwühlen bei der Gelegenheit gleich noch das Leben all derer, die besagtem Komponisten über den Weg gelaufen sind. Könnte ja sein, dass sie irgendwo zusammen Milchkaffee getrunken und sich dabei über die neuesten Entwicklungen im Bereich der Madrigalmelodieführung ausgetauscht haben. Unter anderem. Da können sich die Geheimdienste der Welt eine Scheibe abschneiden.
„Aha“ ist die Antwort. „Dann bist Du also im Grunde eine Stalkerin!“


Ok, das sitzt erstmal. Stalken? Ich? Naja... zugegeben, wäre der Musiker heute noch am Leben, gäbe es vermutlich ein rechtskräftiges Urteil demzufolge ich mich dem Wohnort des Forschungsobjektes nur noch auf 200m nähern dürfte. Wenn überhaupt. Und im Falle Friedemann Bachs sind das relativ viele Wohnorte... Weimar, Köthen, Leipzig, Dresden, Halle, Berlin...im Grunde genommen müsste ich das Land verlassen.
So ganz falsch ist die Idee also nicht. Wer die historische Aufführungspraxis oder ihre Cousine 1. Grades, die Instrumentenkunde zu seinem Arbeitsgebiet erklärt, wäscht seine Hände da zwar nicht in Un- aber vermutlich nur in Mitschuld, wer aber einen Menschen erforscht, gibt dem Begriff „Human Resources“ wohl eine nie dagewesene Bedeutung.
Im Grunde ist das ja schon eine Sauerei, die Privatsphäre dermaßen zu missachten...hätte es damals Facebook gegeben, wäre die Sache ohnehin einfacher gewesen: Besonders die Thomasschüler, ein Haufen Jungs im besten Selbstüberschätzgsalter, die hätten garantiert eine Menge brauchbares Material über ihren ständig genervten Lateinlehrer oder ihren Mitschüler „Friede“ geliefert, der ja offensichtlich über einen ganz eigenen, bissigen Humor und großes Talent zu Karikaturen verfügt hatte, aber dem gegenwärtigen Stand der Forschung zufolge nicht mit einer bestimmten Clique von
Mitschülern abzuhängen schien. Friede, der Außenseiter? Spätestens bei den ersten unüberlegten Kommentaren unter irgendwelchen Klassenfotos auf der Timeline hätte sich die Sache beweisen oder verwerfen lassen.
So muss man eben auf das zurückgreifen, was vorhanden ist und daraus seine Querverbindungen und die entsprechenden Schlüsse ziehen: Eine in einer Hamburger Weißnäherei gekaufte Unterhose mit Eingriffsverzierung im Stil der Mode der 1730er Jahre lässt die Vermutung zu, dass ein zu Beispielzwecken aus der Luft gegriffener Opernkomponist in diesen Jahren in der Stadt geweilt und bei der Gelegenheit die Oper am Gänsemarkt besucht haben könnte. Da Telemann zu dieser Zeit Leiter der Oper war, gab es vielleicht ein Käffchen und ein Pläuschchen in der Pause, der Beispielkomponist besuchte daraufhin vielleicht die eine oder andere Kantatenprobe und schon haben wir eine mögliche Erklärung für eine ungewöhnlich telemannisch klingende Wendung in einer Oper in Hintertupfing an der Knatter. Oder eben auch nicht. Das muss dann eben weiter erforscht werden, aber man merkt schon: Die Verschwörungstheoretiker dieser Welt haben ihr Hauptquartier aufgeschlagen.
Also: Forschst Du noch oder stalkst Du schon? Immerhin wissen wir nun, wo Johann Sebastian Bach seinen Kaffee trank, dass er bei einer einwöchigen Dienstreise mit Frau und Sohn auf heutige Maßstäbe umgerechnet über 1000 Euro unter anderem für Bier, Branntwein, Kaffee, Tee, Zucker, und Rauchzeug verbriet, welche seiner Schüler mit welcher Begründung von der Schule flogen und wohin sie ihr weiterer Lebensweg führte...wer sich jetzt noch von NSA und gewissen Internetdiensten bespitzelt fühlt, hat eindeutig nicht verstanden, wer hier der wahre Meister ist.
Hätte der alte Bach damals gewusst, dass ein Anruf im Hause Wollny oder Ottenberg genügt hätte, um zu erfahren,wo sich sein postpubertärer Zweitältester wieder mal herumtreibt, hätte ihm das sicher so manche schlaflose Nacht erspart.


Und was ist das nun, das mich dazu treibt, bei jedem (ok, fast jedem) Leipzigaufenthalt zum Thomaskirchhof zu rennen, das große gelbe Haus anzustarren und zu flüstern „Irgendwann...wenn ich dann mal meinen Master habe...lasst ihr mich dann mitspielen?“ Woher kommt dieser Schnüfflertrieb? Habe ich als Kind zu viel TKKG gelesen? Oder bin ich einfach nur eine neugierige Schreibliese, die sich darauf eingeschossen hat herauszufinden, welche Verkettung von Zufällen, Moralvorstellungen der unterschiedlichsten Epochen, brachvögelnden Biografien und schnellschießenden Forschern, denen ein Alkie ganz recht kam, dem man mal schnell sämtliche verlorene Bach-Autographe in die Schuhe schieben konnte, dazu geführt haben, dass der Friede mit einem Naserümpfen betrachtet wurde, während man seinem Zeitgenossen, dem tatsächlichen Säufer, Superschuldenmacher und Tagträumer Carl Michael Bellman, noch ein Bier ausgibt und kräftig auf ihn prostet. Soko Leipzig, ich melde mich zum Dienst. Irgendwann mal. Wenn ich vielleicht mal meinen Master habe. Hoffentlich.

 Auch der Winter hat endlich seinen Meister gefunden... fast sowas wie Frühling :)







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