Musikunterricht: Lernen durch Angst
3 Feinde nannte eine befreundete
Musikerin einmal die Tonart, in der sich ein Musikstück befand, an das wir uns
heranwagen wollten. In anderen, wahrscheinlich gebräuchlicheren
Worten: Besagtes Werk stand in c-Moll und durfte sich mit 3 „b“s
(besagten Feinden) schmücken. Nun ist es zwar, selbst für mich
als „Betroffene“ schwer zu erklären, weshalb ich b-Tonarten am
liebsten mit einem dieser Warnhinweise ausstatten würde, wie man sie
an Gehegegittern im Zoo finden kann („Vorsicht, giftig!“ oder
„Achtung! Vorzeichen spucken ins Publikum!" Oder etwas in dieser
Art), mir bei ihren Gegenstücken, den Kreuzen, dagegen denke „Egal,
Dich kriege ich auch noch klein!“, aber ich war definitiv nicht die
einzige in unserem Quartett. Unterhaltungen wie „Das Stück hier
habe ich neulich mal angehört, das ist total schön . Wollen wir
das spielen?“ „Ach, ich weiß nicht… ich habe da irgendwo ein b
drin gesehen…“ können wir sicher alle vier als bekannt
einstufen.
Vielleicht fühlen wir uns ja unbewusst
angehoben, wenn wir die kleine Leiter sehen, die uns einen ganzen
Halbton nach oben befördern will (Beförderungen haben wir ja alle irgendwie gerne), während uns so ein Halbton tiefer gewissermaßen mit
herunterzieht? Wollte ich das Naheliegende (und das eigene Gewissen
beruhigende) tun und die Schuld für alles Übel dieser Notenwelt bei
meinem ehemaligen Musiklehrer suchen, so müsste ich im Grunde alles
hassen, (oder besser fürchten), was sich da so zwischen den
Notenlinien tummelt. Schauergeschichten waren das, die man uns da
auftischte, von der Unter- bis zur Mittelstufe. Gar schaurige Schauergeschichten sogar. Eigentlich ist es ein Wunder, dass wir nicht
alle vor lauter Angst schlagartig ertaubt sind, nur um keine
Schreckensmusik mehr hören zu müssen… nein, Spaß…aber
irgendwie muss ich doch lachen, wenn ich daran denke, wie Herr K.
(Dessen Kürzel K.P.G. uns bereits zu Beginn jeder Stunde an der
Tafel davor warnte, Widerworte zu geben oder fluchtartig den Raum zu
verlassen. K.P.G. stand nämlich für „K. platzt gleich“ und
konnte ein lebensrettender Hinweis sein) wild gestikulierend vor der
Klasse stand und uns mit drohend erhobener Faust, wilden Sprüngen
und verstellter Stimme die Splattergeschichten vom Leben in der
Notenwelt erzählte.
Von aufeinandergestapelten Leitern
(sprich: Kreuzen), die bei dem Versuch, damit den nächsthöheren
Ganzton zu erreichen (Enharmonik… des Teufels Harmonielehre!) in
sich zusammenfielen und dem eifrigen Kletterer das Genick brachen,
von Hämmern und Beilen (Ihr ahnt es schon, es handelt sich unverkennbar
um die bs, die Vorzeichen des Grauens), die diejenigen einen Kopf
kürzer (und somit rein von der Körperhöhe her ein ganzes Stück
niedriger) machten, die sich in ihrem Einfallgebiet befanden,
von Fleischerhaken, an welchen die entsprechenden Töne aufgespießt
wurden (Bassschlüssel und Freunde, ich höre euch trapsen) und, als
sei all dies nicht schon Grund genug, davonzulaufen und sich irgendwo
auf der akustischen Isolation zu verstecken, bekamen wir eine
Kurzeinführung in die Geschichte des Kannibalismus nebst
dazugehörigem Schrumpfkopfrezept. Vom Hals abgehackte, auf die
Hälfte ihrer ursprünglichen Größe zusammengeschmurgelte
Notenköpfe…so entstanden der K-schen Legende nach die
Punktierungen hinter den Noten, die fortan von den Notenfressernoten
quasi als Trophäen überallhin mitgeschleppt wurden.
Vom Standpunkt der Wissensvermittlung
her betrachtet muss ich diese Methoden heute leider als grandios
einstufen. Jeder Hirnforscher würde vermutlich begeistert in die
Hände klatschen: Die Geschichten erwiesen sich im wahrsten Sinne als
„merk-würdig“, die Sache hatte ihren Zweck also voll und ganz
erfüllt. Was uns in diesen Stunden vermittelt worden war, haben wir
tatsächlich nie wieder vergessen.
Lernen durch Angst. Nightmare in
Musiksaal 2. Ein neues Prinzip am Pädagogikhimmel? Immerhin ließ
es sich auch in anderen Fächern ganz vorzüglich zum Einsatz
bringen, insbesonders in Kombination mit dem ohnehin angsteinflößenden Thema
Musik: Wer sich im Mathematikunterricht nicht sämtliche binomischen
Formeln merken (und diese ohne weiter nachzudenken herunterbeten)
konnte, durfte sich vor die gesamte Klasse stellen und ein der Formel
entsprechendes Lied zum Besten geben. Wie beliebt diese Strafe bei
pubertierenden Zwölfjährigen war, zeigt folgender Satz: Klipp plus
Klapp in Klammer zum Quadrat ist Klippquadrat plus zwei Klippklapp
plus Klappquadrat. Ich kann es noch immer. Auch wenn ich bis heute
nicht begriffen habe, wozu so ein Klappquadrat eigentlich gut sein
soll. Kann man das platzsparend in die Tasche stecken und es dann
im Reich des großen Quadrates wieder aufbauen? Handelt es sich um
eine Weiterentwicklung des Klappdreiecks, das bei einer Autopanne
auseinandergeklappt wird? Davon jedoch abgesehen wird man unschwer
erkannt haben, dass es sich bei dem obigen Geklappere um die erste
binomische Formel handelt. Das Strafmaß für Falschaufsagen betrug
damals eine Runde „Es klappert die Mühle am rauschenden Bach“.
Wie ich Mühlen hasste.
Den absoluten Höhepunkt der
musikalischen Halloweenkollektion bildete übrigens eine Einführung
in das Leben von Johann Sebastian Bach: Um das Augenleiden des
Meisters nebst den damals (und, wie ich erfahren musste, in
Entwicklungsländern auch heute noch) üblichen Behandlungsmethoden
besser einschätzen zu können, zeigte man uns einen Dokumentarfilm
über das sogenannte „Starstechen“, bei dem die durch den Grauen
Star getrübte Linse mittels einer Nadel quasi aus ihrem „natürlichen
Umfeld“ vor der Pupille herausgestochen und auf den Boden des
Augapfels gedrückt wird. Ja, auch diese medizinischen Fakten haben
wir uns bis heute gemerkt, die Methode war und ist bis heute von
Erfolg gekrönt…also die als Unterricht getarnte Schocktherapie,
nicht die Starstecherei. Wobei das ebenfalls medizinische Phänomen
des Magenumdrehens in diesem Augenblick um einiges präsenter war.
Im selben Augenblick, in dem die Nadel die Netzhaut des Patienten
durchbohrte, presste sich meine Nebensitzerin die Hand auf den Mund
und lief los, um das Klassenzimmer vor den unendlichen Weiten ihres
Mageninhalts zu schützen. Sie schaffte es beinahe bis zur Türe.
Jahre später sah sich mein
herzensguter Cellolehrer genötigt, mir die Angst vor den bösen bs
auszutreiben und dachte sich Namen aus, die mir das Herz öffnen
sollten. Aus F-Dur, dem ersten bösen b, wurde „Friedemann“-Dur,
aus der Folgetonart „B-Dur“ der entsprechende Nachname…
Friedemann Bach klingt doch gleich viel netter als „1 Feind“
(Bzw. 2 Feinde)…auch wenn man ein bisschen schräg angeschaut wird,
wenn man als erwachsener Mensch nach dem Notenblatt greift und
freudig verkündet „Oh ja, da stehen 3 Friedemänner, die sind
nett! Die haben zwar 3 Fallbeile dabei, aber die Friedis haben sicher
ohnehin einen im Tee und können gar nicht richtig zielen!“
Hach, es ist schon ein Kreuz mit den
„b“s, aber je mehr ich darüber nachdenke, desto besser finde
ich diese (zugegeben etwas makabre) Art der Unterrichtsführung.
Wahrscheinlich ist es bei der Pädagogik mittlerweile wie bei der
Werbung: Was uns nicht schockt, bleibt auch nicht im Gedächtnis. Und
immerhin haben wir damals überhaupt etwas gelernt. Eine Kollegin an
einer Mittelschule berichtete hingegen kürzlich von einer Schülerin,
die gefragt habe, was denn der Hashtag zu Beginn der Notenlinien
bedeute...
Bin ich ein Fangirl?
°Ja
°Nein
°Vielleicht
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